Interview Heidi Rehn

(Copyright Susie Knoll)

Heidi Rehn, die Spezialistin für historische Romane, hat schon mehrfach das München vergangener Tage zum Leben erweckt. Mit dem Ermittler Emil Graf und der aus dem Exil zurückgekehrten Kriegsreporterin Billa Löwenfeld schickt sie nun in seit bereits zwei Bänden hochspannende Figuren quer durch eine Stadt, in der nach 1945 nicht nur die Gebäude in Trümmern liegen. Was Persilscheine und die Monument Men damit zu tun haben, enthüllt die Autorin im Interview.

Wann und warum kam die Idee auf, sich mit dieser speziellen Zeit zu beschäftigen?

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in München ist mein „Spezial-Thema“, zu dem ich bereits mehrere Romane veröffentlicht habe. Aus der Recherche für den einen Roman ergibt sich oft bereits der nächste, so auch hier. Mir fiel auf, dass die direkte Nachkriegszeit, also 1945 bis 1949, in vielerlei Hinsicht fast ein schwarzes Loch ist. Da liegt noch vieles im Verborgenen – das ist für mich als Autorin sehr reizvoll, denn das heißt, es gibt noch einige Details und Zusammenhänge aufzudecken, aus denen sich spannende Geschichten stricken lassen. Zugleich ergeben sich daraus auch gewisse Freiheiten, eben weil damals ein gewisses Chaos herrschte und vieles bis heute unklar ist.

Wie ging die Recherche vonstatten, wie problemlos ließen sich Quellen finden?

Bei vielem musste ich wegen der schwierigen Quellenlage improvisieren – und „quer recherchieren“, es mir also aus anderen Zusammenhängen herleiten. Die Geschichte der Kriminalpolizei in der NS-Zeit ist z.B. relativ gut erforscht. Daraus lässt sich auch für die Epoche nach 1945 vieles erschließen. Speziell zur Münchner Polizeigeschichte ist mir die sogenannte „Falter-Chronik“ sehr nützlich gewesen. Wertvolle Unterstützung erhielt ich außerdem von Polizeipräsident a. D. Arwed Semerak sowie Markus Schreiner-Bozic, die sich beide intensiv sowohl mit der Polizeigeschichte allgemein als auch mit der des Polizeipräsidiums in der Ettstraße und seinen Beamten im speziellen befasst haben. Arwed Semerak ist eine wahre Fundgrube, weil er in den 1950er Jahren seine Polizeilaufbahn begonnen und viele wichtige Persönlichkeiten noch selbst gekannt hat. Außerdem betreut er ehrenamtlich das Museum in der Ettstraße, das öffentlich nicht zugänglich ist, und hatte mich zu einer seiner Führungen für Juristen eingeladen. In einer Vielzahl von Veröffentlichungen hat er sich mit der Geschichte der (Kriminal-)Polizei befasst.

Spannend ist natürlich zu sehen, dass es auch bei der Kriminalpolizei sehr lange gedauert hat, bis man sich den Verstrickungen in der NS-Zeit gestellt und mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte begonnen hat. Unrühmliche Seilschaften aus alten Zeiten haben da eben noch lange nachgewirkt und ihren Einfluss geltend gemacht, wie leider in vielen Institutionen des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik.

Wie kamen die Kontakte zu diesen Gesprächspartnern zustande?

Der Hirschkäfer-Verlag von Martin Arz hat mit dem Verein Münchner Blaulicht einige Bücher von und über die Geschichte der Münchner Polizei publiziert. Er hat  freundlicherweise den Kontakt für mich hergestellt.

(privat)

Wie machen Sie sich für die Schilderung der Alltagsatmosphäre ein Bild vom täglichen Leben?

So lange es noch möglich ist, versuche ich, mit Zeitzeugen zu sprechen. Mein Vater beispielsweise ist Jahrgang 1929, mit ihm rede ich viel darüber. Er lebte zwar in der damaligen britischen Besatzungszone, aber die Alltagserfahrungen sind vergleichbar. Ebenso habe ich eine Nachbarin, die damals als Heranwachsende von Berlin nach München kam und mir noch einiges von früher berichtet hat. Zusätzlich lese ich immer wieder Zeitzeugenberichte aus der Zeit rund um das Kriegsende, damit ich das Leben so authentisch wie möglich beschreiben kann, und stöbere in den damaligen Zeitungen, die mittlerweile größtenteils online verfügbar und eine wahre Fundgrube sind. Und da ich in München lebe, bin ich natürlich auch viel zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs, um mir mögliche Schauplätze direkt vor Ort anzuschauen. Aus diesen verschiedenen Mosaiksteinen baue ich mir letztlich alles zusammen.

Es gibt in den Emil-Graf-Romanen aber auch Figuren, die nicht im Polizeidienst sind. Wie haben Sie sich darüber informiert?

Ein Thema, das mich immer wieder in meinen Romanen beschäftigt, ist die Geschichte unserer jüdischen Mitbürger:Innen, die ich in den Krimis am Beispiel meiner Hauptfigur Billa Löwenfeld erzähle. Über aus der Emigration zurückgekehrte Juden und Jüdinnen gibt es einige Bücher zu lesen – eine sehr traurige, sehr nahegehende Lektüre, aber auch sehr erhellend. So etwa von Marita Krauss „Heimkehr in ein fremdes Land“ oder von Andrea von Treuenfeld: „Zurück in das Land, das uns töten wollte. Jüdische Remigrantinnen erzählen ihr Leben“.

Die meisten saßen zwischen den Stühlen, fühlten sich überall fremd und waren nirgendwo wirklich willkommen, weder dort, wohin sie sie geflüchtet waren, noch in ihrer ursprünglichen Heimat, aus der sie geflohen waren. Dort mussten sie sich nach dem Krieg oft Vorwürfe anhören von wegen: „Ihr wart in Sicherheit, hier fielen die Bomben“. Dabei haben sie ja alles andere als freiwillig ihre Heimat verlassen. Und wenn sie – wie Billa („…ich bin doch hier aufgewachsen“) –  zurückkehrten, saßen Fremde in ihren früheren Wohnungen, benutzten ganz selbstverständlich ihre Sachen. Selbst bei banalen Dingen, die nicht viel wert sind, ist es eine ungeheure Anmaßung, wenn sie von anderen in Besitz genommen werden. Ganz zu schweigen von den Begegnungen mit Menschen, die sie vor ihrer Flucht offen angefeindet oder gar denunziert hatten, also zu den Tätern gehörten, und die sich jetzt als die eigentlichen Opfer gerierten.

Gab es auch tatsächliche historische Persönlichkeiten, an denen Sie sich für Ihr Personal orientiert haben?

Billas Mutter Lilo ist stark angelehnt an Bella Fromm, eine Gesellschaftsreporterin aus Franken, die in den 1920ern in Berlin sehr populär war und für alle wichtigen Zeitungen schrieb. Die Frau war sehr privilegiert, konnte 1938 unter unglaublichen  Vorzugsbedingungen ausreisen. In ihrem 1942 in den USA zum Bestseller avancierten Buch „Blood and Banquets“, auf Deutsch 1993 unter dem Titel „Als Hitler mir die Hand küsste“ erschienen, sieht sie sich selbst als arme jüdische Emigrantin – nimmt also einen ganz anderen Blickwinkel ein. Auch eine solche Lebensgeschichte finde ich sehr aufschlussreich und erzählenswert.

Und für die Reporterin selbst?

Für Billa habe ich mir die Vita verschiedener Kriegsberichterstatterinnen wie etwa Lee Miller als Vorlage  angesehen. Sie war bei der Landung der Alliierten in der Normandie und bei der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau dabei. Von ihr gibt es das berühmte Bild in Hitlers Badewanne. Exilantin allerdings war sie nicht. Im Gegensatz zu Erika Mann, über die ich in „Die Tochter des Zauberers – Erika Mann und ihre Flucht ins Leben“ geschrieben habe. Sie war ja auch Kriegsreporterin. Meine „Reportervilla“ in der Emil-Graf-Reihe ist allerdings reine Fiktion, der Rest jedoch beruht teilweise auf Tatsachen – halt ein „best of“ (lacht)

Zurück zum Münchner Polizeialltag nach 1945 … Wie entwickelte sich der?

Das anfängliche Fraternisierungsverbot, demzufolge die Amerikaner Deutsche auf der Straße nach der Devise: „Jeder Deutsche ist ein Nazi“ nicht einmal anlächeln durften, wurde ziemlich schnell unterlaufen. Es funktionierte auf Dauer nicht, weil es einfach absurd war, und allmählich merkten die Amerikaner auch, dass nicht jeder Deutsche per se ein Nazi war. Gerade dunkelhäutige Soldaten empfanden es oft als sehr positiv, dass man ihnen in Deutschland mit Respekt begegnete – zurück in den USA wurden sie dagegen weiter wie der letzte Dreck behandelt, obwohl sie doch so Großes geleistet hatten.

Außerdem wurde schnell klar: Man brauchte das Fachwissen. So auch bei der Polizei. Unmittelbar nach dem Einmarsch hatten die US-Streitkräfte alle Beamten aus der Ettstraße entlassen, weil sie davon ausgingen, sie wären alle Nazis gewesen. Schnell stellten die Amerikaner jedoch fest, dass sie auf deutsche Polizeikräfte angewiesen waren. Vor allem Sprach- und Ortskenntnisse waren vonnöten, um die Sicherheit in der Stadt wieder herzustellen. Deshalb stellte man viele „Quereinsteiger“ ein, die nicht durch eine Parteimitgliedschaft vorbelastet waren und als Ermittler „angelernt“ wurden wie etwa mein Emil Graf.

Anfang Juni 1945 wurde Oberinspektor (später Kriminaldirektor) Andreas Grasmüller mit dem Wiederaufbau der Kriminalpolizei betraut. Die Polizei war dem Public Safety Office gegenüber weisungsgebunden und anfangs lediglich mit Schlagstöcken bewaffnet. Im Frühjahr1946 rüstete man sie mit US-Trommelrevolvern aus. Nach US-Vorbild war die Polizei städtisch, nicht staatlich organisiert. Das blieb sie in München übrigens bis in die 1970er Jahre.

Eine große Rolle spielten gefälschte Leumundszeugnisse im Zusammenhang mit der Entnazifizierung, an die wiederum die Bezugsscheine für Essen und Waren des täglichen Bedarfs gekoppelt waren. Was können Sie darüber erzählen?

Ostern 1946 mussten alle erwachsenen Deutschen in der US-Besatzungszone ein Formular mit 131 Fragen zum Verhalten während der NS-Zeit ausfüllen. Um als „unbelastet“ oder „weniger belastet“ eingestuft und z.B. wieder im öffentlichen Dienst beschäftigt zu werden, konnte man eine positive Einschätzung z.B. eines NS-Opfers vorlegen. Daraus entwickelte sich ein regelrechter Handel mit solchen Zeugnissen. Es hieß bald, so viele Juden, wie laut den Bescheinigungen in München angeblich versteckt worden seien, habe es niemals in der Stadt gegeben.

Letztlich entstand aus diesen Leumundszeugnissen der Begriff „Persilschein“, mit dem man wieder in Amt und Würden zurückkehren konnte. Weihnachten 1946 gab es zudem die sogenannte „Weihnachtsamnestie“. Man setzte als „gering“ oder „weniger schwer“ belastet geltende Beamte wieder in ihre alten Funktionen ein, vor allem in Polizei und Gerichtsbarkeit, weil man einfach sachkundige Leute brauchte, die die Aufgaben ausführen konnten.

Heidi Rehn beim Romanspaziergang (privat)

Weil wir von der Ettstraße sprachen, das ist schon recht lange das Zentrum der Polizei oder?

Nachdem das allererste Polizeipräsidium auf dem heutigen Marienhof (übrigens auch in einem Kloster ansässig, das allerdings ursprünglich den englischen Schulschwestern gehörte) zu klein geworden war, eröffnete man kurz vor dem Ersten Weltkrieg das Präsidium in der Ettstraße in dem dortigen ehemaligen Augustinerkloster. Im Zweiten Weltkrieg wurde zwar einiges an dem Bau zerstört, größtenteils aber blieb er wie durch ein Wunder intakt. Und da man jedes einigermaßen verwendbare Gebäude dringend benötigte, nahm man es schnell wieder in Betrieb, quartierte dort auch noch das Public Safety Office der US-Streitkräfte mit ein. Und sammelte beschlagnahmte Waren und Diebesgut im Haus. Es muss ein buntes Sammelsurium gewesen sein.

Frauen suchte man aber bei der Polizei vergebens, nicht wahr?

Die weibliche Kriminalpolizei (WKP) kam in den späten 20er Jahren auf, als es erstmals das gab, was wir heute unter Kripo verstehen. Sie kümmerte sich vor allem um typische Frauenthemen: Kinder/Jugendliche, Frauen, „gefallene Mädchen“. Im Dritten Reich war sie komplett außen vor, in der Nachkriegszeit griff man die Idee, dass auch Frauen im Polizeidienst nützlich sein könnten, vorsichtig wieder auf, wies den Frauen abermals jedoch nur die typischen „Frauenthemen“ zu. Es dauerte bis in die späten 60er Jahre, bis die alten Strukturen allmählich aufgeweicht wurden und sich die Erkenntnis durchsetzte, dass man Frauen in allen Bereichen braucht.

Wie konnte jemand wie Emils Bruder, Fritz Graf, der offenbar bei der SS war und im Dritten Reich als Staatsanwalt fungierte, so unbehelligt in München seiner Wege gehen?

Er hat nicht nur Glück gehabt, sondern pflegt auch seine Seilschaften – er ist eine ganz gefährliche Figur, hat keine Überzeugung, hängt sein Fähnchen in den Wind. Macht bei denen mit, von denen er sich die größten Vorteile für sein eigenes Fortkommen verspricht. Das ist für seinen Bruder Emil wahnsinnig schwer, weil der seinen Überzeugungen treu bleiben will und hehre moralische Ansprüche hegt.

Im aktuellen Band „Die letzte Schuld“ geht es unter anderem um Kunst – das „Haus der Kunst“, die „Monument Men“, Amerikaner, die Kunst erstehen, Deutsche, die welche anbieten … Welchen persönlichen Bezug haben Sie zu diesem Thema?

Die Idee kam mir während eines Seminars bei der Historikerin Sabine Brantl im Haus der Kunst, bei dem ich sehr viel über die Geschichte des Gebäudes sowie über die Kunstschauen der Nazis gelernt habe. Die waren reine Verkaufsveranstaltungen, weshalb die Kunstwerke, die dort ausgestellt wurden, nach Ende der Schau zügig wieder abgeholt werden mussten. Das spielt dann in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte bei der Entnazifierung dieser Einrichtung eine interessante Rolle, ebenso wie die ursprüngliche Ausstattung und Nutzung des Gebäudes.

Den Amerikanern diente der Bau als Offizierskasino. Außerdem war dort ein Supermarkt für die Soldaten untergebracht. Und die andere Hälfte des Gebäudes sollte wieder der Kunst dienen, speziell der Modernen Kunst. Eine hochexplosive Mischung, wie sich bald herausstellt…

Ganz am Ende von Band zwei tauchen erste Hinweise auf das künftige „Landeserkennungsamt“ auf. Wird es später noch eine Rolle spielen?

Ja, denn an seiner Gründung 1946 wird eine der Figuren aus der Serie maßgeblich beteiligt sein und bei der Bearbeitung weiterer Fälle von der Seite aus noch eine wichtige Rolle spielen.

Mit Heidi Rehn sprach sehr gern im Auftrag des BLKA im November 2021 Chefredakteurin Michaela Pelz

 

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